Keine Angst vor Gefühlen // zitty Berlin // Heft 11/2013
Die junge Regiesseurin Anne Schneider verhilft einer im Theater lange vergessenen Ressource zur Wiedergeburt
Theaterproben können echte Erkundungsreisen sein. Zumindest bei neugierigen Regisseurinnen und Regisseuren. Anne Schneider ist so eine. Nachdem sie ihren beiden Schauspielern Rike Schubert und Ilja Pletner bei einer Probe im Theater unterm Dach kurz die Anweisung gegeben hat, verschiedenen Arten der Übergabe eines Tonbands durchzuspielen, sitzt sie ganz ruhig im Gestühl. ... Sie wartet, guckt und lacht und ist berührt von dem, was diesen beiden Menschen geschieht. Und so wie ihr geht es auch den anderen im Raum. Das geschieht sonst eher selten.
Anne Schneider schafft mit ihrer Crew etwas, was man schon ausgestorben glaubte im Theater: sie lässt Gefühle entstehen zwischen den Figuren. Sie gewährt den Schauspielern Raum, diese Emotionen zu entwickeln. Und sie hält dabei die Figuren porös genug, damit die Imagination der Zuschauer in sie hineinströmen kann. "Ich möchte, dass jeder etwas von seiner eigener Erfahrung einfließen lassen kann", sagt sie nach einer Probe zur Uraufführung des Stücks 'In der guten Stube' von Tobias Schwartz. "Die Balance herauszufinden, wie weit man mit der Charaktersisierung einer Figur gehen kann und wo es zuviel wird, das ist die spannende Frage. Die möchte ich gemeinsam mit den Schauspielern erkunden."
Im Grunde deckt die 32-Jährige damit auch gleich ihre ganze Methode auf. Ihr Ziel ist die Berührung durch Emotionen. Das erschien uns im Theater eigentlich ausgetrieben durch zu viel unverdaute postdramatischen Theorie, und weil durch zu viel Kitsch und Übertreibung auch erst entstand nach kühler, kalter Analyse. Bei Anne Schneider aber gilt: keine Angst vor Gefühlen. Hergestellt werden sie in einem kollektiven Prozess. "Ich wurde so beim Studium in Erlangen geprägt. Wir waren eine Gruppe von Studenten, die sich gegenseitig offen und kontruktiv kritisiert haben", erinnert sie sich.
Mittlerweile gilt Schneider als aufstrebender Stern am Regiehimmel. Als Regieassistentin von Thomas Ostermeier lernte sie den Apparat der Schaubühne kennen und inszenierte dort auch. Danach hat sie sich mit Arbeiten in der Freien Szene freigeschwommen. Mit 'Schwesterherz', einem so versponnen wie charmanten und komödiantischen Stück über schwesterliche Bindungen, gewinnt sie 2012 den Publikumspreis beim Festival 100Grad Berlin. ...
Bemerkenswert an der 1980 in Göttingen geborenen Regisseurin ist, dass sie sich nicht nur für ihr eigenes künstlerisches Fortkommen interessiert. Als neue künstlerische Leitung des 'Kaltstart'-Festivals in Hamburg hat sie eine Umfrage zur Situation der Regieassistenten gestartet. "Das Berufsfeld hat sich in den letzen Jahren stark gewandelt. Die Absolventen der Regieschulen erfahren gleich bei ihrer ersten Inszenierung größere Aufmerksamkeit als jemand, dem es als Regieassistent gelungen ist, sich eine eigene, meist kleine Inszenierung am Hause zu erkämpfen", sagt sie. Der Weg vom Probenorganisator und Konfliktlöser für die etablierten Regisseure hin zur eigenen künstlerischen Arbeit ist ihrer Beobachtung nach in den letzten Jahren dorniger geworden. Sie geht jetzt diesen Weg nicht nur, sondern denkt auch daran, wie er für die nachfolgenden Kollegen besser gestaltet werden könnte.